Am Morgen erwache ich ausgeruht und ohne Halsschmerzen. Wie genial ist das denn, heute Nacht haben sie mich noch gequält. Jetzt läuft die Nase, aber damit lässt sich leben bzw. fahren.
Seit über zwei Monaten ziehe ich das erste Mal wieder festes Schuhwerk an, nicht wegen des Geländes, sondern aufgrund der Temperaturen. In Prad am Stilfserjoch bin ich auf 915 m ü.d.M., der 30 km entfernte Reschenpass liegt auf 1.455 m ü.d.M.
Die Holunderbeeren sind hier noch grasgrün, die habe ich doch vor Wochen bereits in tiefem schwarz gesehen.
Nach fünf Kilometern beginnt es das erste Mal mit regnen. Keine Unterstellmöglichkeiten, ein Hoch auf gute Regenbekleidung.
In Gurns (es regnet einen kurzen Moment nicht) sind die Häuser bemalt, mit Schnörkeln um den Fenstern, geometrischen Figuren an den Ecken und Marienfiguren an den Giebeln. Richtig niedlich hier. Denken sich sicher auch die ganzen Tourist*innen. Und so viele Radfahrende, die fahren auf der Via Claudia Augusta Schlange. Einige scheint es auch nicht zu stören, dass es schon wieder in Strömen gießt.
Sobald ein Schauer vorüber ist, fahre ich weiter. Entlang von Kuhweiden und dichten Fichten- und Lärchenwäldern.
Eine Frau auf einem Mountainbike überholt mich und sagt: „Meine Güte, mit dem ganzen Gepäck.“ Ich grüße und lächle, sage aber nichts. Nicht, dass ich mich freue, weil es auf diesem aalglatten Radweg nur noch vier Kilometer bis nach oben sind. Nicht, dass ich hier ja immerhin nur selten schieben muss. Und auch nicht, dass mir dies im Vergleich zu der Fahrt hoch in den Mavrovo-Nationalpark, zu den beiden Apennin-Überquerungen oder zu dem langsamen Hochkriechen an der Amalfiküste einfach erscheint.
In Burgeis gibt es breite, straßenseitige Eingangspforten für die Kühe. Einige stehen auch drin im Stall, da kann man sie beobachten. Es stinkt nach Mist, aber irgendwie gehört das ja auch mit zur Alpenromanik.
Ich passiere den Haidersee und die Talsperre des Reschensees.
Die berühmte Kirche im See, oje, ist genau am anderen Ufer. Von hier aus sehe ich sie kaum.
Im Ort Reschen gehe ich in eine Konditorei, den Abschluss der italienischen Etappe feiern.
Mit einem Cappuccino und Apfelstrudel (habe ich schon seit Verona Appetit drauf). Italiener*innen bestellen Café und bekommen keinen Espresso, sondern das, was in Deutschland eine Tasse Kaffee ist. Es beginnt mit gewittern. Die Angestellte der Konditorei, sehr freundlich, hilft mir mit warmen Wasser für die Thermoskanne aus. Mit einem Blick auf die Uhr entscheide ich nach kurzer Zeit weiterzufahren, auch wenn es regnet.
Schön ist die Landschaft hier oben, mit den bunt blühenden Wiesen und den verstreuten Holzhütten.
Am Grenzübergang zu Österreich wird kontrolliert, aber der Fahrradweg führt hinter dem Passhäuschen vorbei. Soll ich jetzt stehenbleiben? Lieber nicht, regnet ja.
In Nauders haben halb sieben alle Läden bereits geschlossen, kaum ein Mensch auf der Straße. Die Radwegeschilder sind ab jetzt nicht mehr braun, sondern grün und verschwinden plötzlich. Im Navi sehe ich, ab jetzt Bundesstraße nutzen.
Steile Felsen rechts und links, dazwischen am Abhang klemmend die Straße mit sich aneinanderreihenden Tunneln. Mir scheint es nicht ganz ungefährlich zu sein, hier mit 30 km/h runter zu fahren, aber in den Tunneln ist es wenigstens trocken.
Als ein kleiner Weg abführt, sehe ich ein Schild, dass daraufhin weist, dass auf der Reschenstraße das Radfahren verboten sei. Man solle einen Busshuttle nutzen, aber jetzt kommt keiner mehr.
Ich fahre weiter und bin zehn Minuten später auch schon unten am Camping Via Claudia. Ich soll mein Zelt in der Nähe eines Heuschobers aufbauen, in diesem könnte ich auch schlafen. Aber dafür zieht es mir drin zu sehr, zum Wäsche trocknen ist er perfekt.
Ein Radfahrendenpärchen, Michelle und Phillipp aus Freiburg tauchen auf. Sie erzählen von ihrer letzten Reise in Bosnien. Keine Campingplätze, aber sehr viel Gastfreundschaft, klingt gut.
Morgen soll es ab Mittag wieder durchgängig regnen. Keine Ahnung, ob ich weiterfahren oder einen Ruhetag einlegen sollte.
Mille grazie