Das Hotel in Urbino, das ist richtig alte Schule. Im Zimmer steht ein Röhrenfernseher, Informationen zum WLAN finde ich nicht. Die Lobby ist dunkel getäfelt und mit Ledersesseln, in die man tief einsinkt, bestückt.
Als es mit gewittern anfängt, setzt für einige Sekunden der Strom aus, die Lampen flackern, die Musik verstummt.
Halb eins lässt der Regen nach. Auch wenn ich keine Lust habe, jetzt loszufahren, ziehe ich die Regenkleidung über (hab ich ja gestern gesehen, wie das geht, mit dem im Regen losfahren). Hole das Fahrrad und verschließe die Taschen wasserdicht.
Doch dann, plötzlich, geht es wieder richtig los. Große Pfützen, die zu Bächen werden. Aus den Gullideckeln quillt oben das Wasser wieder raus. Nein, es macht einfach keinen Sinn jetzt loszufahren.
Ich setzte mich wieder in die Lobby und beginne zu lesen, über Thomas Stevens, der 1884 als erster die Welt auf einem Fahrrad umrundete. Er hatte nichts weiter bei sich als ein paar Socken, eine Hose und eine Regenjacke, die ihm als Zelt und Schlafsack diente. Er fuhr mit einem 50-Zoll Hochrad.
Halb drei ist der Regen endgültig vorbei und ich überlege: losfahren oder nicht losfahren. Nur 42 Kilometer, aber auch 1.100 Höhenmeter. Einige Steigungen sind im Höhenprofil rot markiert. Ene mene mu. Ich entscheide zu fahren, auch, weil ich heute Nacht wieder einmal fast eine ganze 300g-Packung Erdnüsse aufgefuttert habe. Immer wieder habe ich sie ganz unten im Schrank, möglichst weit weg von mir, versteckt. Immer wieder habe ich sie hervorgekramt. Am Ende war nur noch eine kleine Handvoll übrig. Also an Energie sollte es mir wirklich nicht mangeln.
Bei der ersten Abfahrt zweifel ich schon, über 20 % geht es hier runter. Aber sehr schön, dieses fast 360-Grad Panorama.
Dann geht es das erste Mal hoch. Serpentinen, also fahrbare Steigerung. Ich finde einen guten Rhythmus, komme langsam, aber doch kontinuierlich vorwärts. Dass es so leicht und angenehm geht, liegt bestimmt an den Erdnüssen.
Am Straßenrand hält ein Auto, italienische Touristen. Sie rufen mir zu: „He, where are you going?“ Ich mag das nicht, wenn ich von weitem grußlos irgendetwas gefragt werde. Wo ich hinfahre, wo ich herkomme oder ob es anstrengend ist, zu fahren. Am schlimmsten ist, wenn sie aus ihren klimatisierten Autos heraus unvermittelt rufen, „Ma, va caldo o no?“ (Aber es ist doch heiß oder?). Ach Mensch, hab ich ja noch gar nicht mitbekommen… . Und so antworte ich auch diesmal nur knapp, San Marino. Ooooh, erstauntes Gesicht. „Good luck.“ Yeees, thank you.
Oben angekommen ist es traumhaft. Die Aussicht, auf die Felder, auf denen die Mähdrescher Muster hinterlassen haben. Auf faltige Gebirgszüge, auf hohe, spitze Felsen am Horizont.
Auch die zweite Steigung, gar kein Problem. Um 19 Uhr bin ich in San Marino. Keine Grenzkontrolle, nur ein altes Begrüßungsschild mit der Aufschrift: Benevento nell‘ antica terra della libertá (Herzlich Willkommen im antiken Land der Freiheit). Darunter ein weiteres, neues, das darauf hinweist, dass alles videoüberwacht wird. Schöne neue Freiheit.
Da San Marino nicht in der EU ist, schalte ich vorsorglich die mobilen Daten aus. Es gibt öffentliche Sammelstellen für Speiseölreste, gefällt mir. Und die Straßenschilder in etwas anderen Farben, keine Gehwege. Die Polizei heißt hier Gendarmeria. Ansonsten ist auf dem ersten Blick alles wie in Italien.
Im Hostel angekommen suche ich verzweifelt mein Ladegerät. Ich leere alle Taschen, nichts. Ich ärgere mich sehr. Jetzt ist es notwendig, ein neues zu besorgen, möglichst wieder einen schnellladenden Vierer-USB-Stecker. Ob ich einen solchen finde? Dann suche ich mein Handtuch, auch das verschwunden. Das gibt’s doch gar nicht, das ist doch IMMER ganz oben in der komplett gelben Tasche, die auf der hinteren rechten Seite hängt. Da fällt es mir wie Schuppen von den Augen, hab ich doch heute morgen alles in den wasserdichten Zeltsack gepackt, damit die Taschen auch wirklich richtig zugehen. Puuh.
Im Schlafsaal ist außer mir noch ein weiterer Radfahrer. Aber durch den (unnötigen) Ärger und Stress mit dem Ladegerät, habe ich ihn bisher nicht wirklich beachtet und immer nur knapp und abweisend reagiert. Dabei scheint er nett zu sein, er kommt von Zypries und fährt nach Belgien zurück. Wir haben eine sehr ähnliche Route. Jetzt macht er im Schlaf leise Geräusche, träumt bestimmt irgendetwas von der Reise. Vielleicht versuche ich es morgen früh nochmal mit einem Erfahrungsaustausch.