Am Morgen ist das Bett meiner Zimmerkollegin immer noch leer. Dabei wollte Alice aus Brasilien gestern nur nach Pompei fahren. Ich frage an der Rezeption nach ihr. Dort bestätigt man mir, ja, sie sei am Nachmittag abgereist. Eine andere Mitreisende weiß noch, dass sie ans Meer fahren wollte. Komisch ist das trotzdem: im Zimmer stehen Rucksack und Schuhe von ihr. Außerdem meine ich sie gestern Abend noch in Bahnhofsnähe gesehen zu haben.
Nachdem der Blogbeitrag online ist, mache ich mich mit der Metro auf den Weg zu einem unterirdischen Friedhof.
Anschließend möchte ich Bus fahren, aber alles ist verstaut. Vor allem wenn grün wird, schwillt ein Hupkonzert an. Kurzzeitig denke ich, jetzt eskaliert es gleich. Aber nichts passiert und ich beschließe zu laufen.
Wie gut, dass in Leipzig sich Menschen dafür einsetzen, dass der KFZ-Verkehr abnimmt (zur 48-Stunden-Demo vom 28.-30.6.).
Auf dem Weg hoch zu den Katakomben gibt es viele kleine Läden des alltäglichen Bedarfs und juchu, die haben sogar alle offen (obwohl es schon 14 Uhr ist). Bei einer Bäckerei bekomme ich für einen Euro drei große Taralli. Und in einem asiatisch geführten Haushaltswarenladen für zwei Euro ein neues Lightning-Kabel.
An den Catacombe di San Gennaro angekommen, warte ich auf die nächste Führung. Kurz nach drei werden wir aufgefordert, uns zu einer englisch- oder italienischsprachigen Gruppe zu stellen. Da bei der italienischen Führung weniger Personen stehen, gehe ich dorthin. Eine gute Entscheidung, denn der Guide spricht ein makelloses, klares Italienisch. Und außerdem ist er begeistert. Fasziniert von diesem dunklen, kühlen Ort mit außerordentlicher Geschichte.
In den Catakomben di San Gennaro wurden Gottesdienste gehalten und Menschen begraben. Darunter auch San Gennaro (dt. Januarius), der erste Bischof und Märtyrer der Erzdiözese Benevent (zu der Napoli gehört). Bereits ab Ende 200 AD breitete sich in der Region das Christentum aus. Davon zeugen auch Fresken an der Decke einer der beiden Kirchen.
In einem anderen unterirdischen Saal gibt auch noch einige, nur wenige Jahre ältere Fresken. Diese sind, ähnlich wie in einem Tempel in Herkulaneum oder Pompei, eher dekorativer Natur. Dieser Ort ist eine Mischung aus antiker und frühchristlicher Kultur.
In den Hohlräumen, die aus hygienischen Gründen geräumt wurden, lagen für lange Zeit Tote. Die Gräber wurden mit Terrakotta verschlossen und mit Fresken verziert.
Nach der Führung gehe ich zum madre, dem Museum für zeitgenössische Kunst.
Dabei entdecke ich das alltägliche Neapel, kleine Gassen mit gatschenden Mofafahrer*innen und Wäsche am Fenster. Ich nehme noch einen Espresso in einer Bar ein und betrete das Museum.
Ein stiller, kühler Ort, in dem man sich in Bildern und Installationen verlieren kann. Das gesamte 3. Obergeschoss ist der Sonderausstellung „Painting as a Butterfly“ mit Werken von Pier Paolo Calzolari gewidmet. Als Vertreter der Arte Povera kombinierte er in seinen Werken Alltagsgegenstände mit besonderen Eigenschaften, Bewegungen und Farben.
In einigen Installationen lässt er sogar mittels eines Gefrierstabes Eis entstehen und integriert den Prozess des Gefrierens und Schmelzens in eine natürlich wirkende Gesamtkomposition.
Besonders fasziniert scheint Calzolari auch von Haikus gewesen zu sein. In mehreren Werken gibt er der japanischen Gedichtform einen Ausdruck.
Minimalismus per Excellence.
Während im Innenhof ein Theaterstück aufgeführt wird, schaue ich mir in den unteren Geschossen Bilder von hochrangigen Künstler*innen wie Roy Lichtenstein, Joseph Beuys, Gerhard Richter und Andy Warhol an.
Dieser Ort und die Kunst darin haben meine Seele beruhigt und belebt zugleich.
Ich gehe durch kleine Gassen Richtung Altstadt. Eine Touristengruppe kommt aus einem kleinen Eingang. Da muss es etwas zu sehen geben.
Drin angekommen, sehe ich, es ist eine Werkstatt für Krippen und Keramik.
Wenn die Türen geöffnet sind, kann man direkt in die Küchen, Werkstätten, Geschäfte und Aufenthaltsräume schauen. Für einige Momente beobachte ich eine Schuhmanufaktur, einen Billiardraum, eine Elektrowerkstatt und einen Getränkeverkauf.
Das ist Napoli, so wie es lebt und arbeitet.
In der inneren Altstadt, die zum Weltkulturerbe erklärt wurde, liegen in den Auslagen vorn touristischer Klimbim und hinten Waren des alltäglichen Bedarfs.
Auf der Piazza San Domenico Maggiore sind jetzt, kurz vor acht, alle quatschend mit Getränk und/oder Snacks im Giro. Ein guter Ort zum Einkaufen.
Ich gehe noch in einen Supermarkt, der auch spät Abends offen hat und nehme dann die Metro bis nach Garibaldi.
Zurück im Hostel ist meine (ehemalige?) Zimmerkollegin immer noch nicht da. Dafür ich jetzt Gabi, ebenfalls aus Brasilien, angereist.
Halb elf findet draußen über fünf Minuten ein Feuerwerk statt. Viele Male höre ich es laut knallen, aber Raketen sind keine über den Dächern zu sehen. Das ganze Spektakel erinnert mich an Kampf und Krieg, etwas, das ich auch noch später am Abend denke, als Flaschen fliegen und Glas auf der Straße zersplittert.
Plötzlich taucht Alice wieder auf. Sie ist zwischenzeitlich mit dem Boot nach Capri gefahren und hat dort ein Rumba-Konzert besucht. Begeistert erzählt sie von ihrem Ausflug, zu dem ihr jemand spontan verholfen hat.
Gabi hingegen ist genervt und verschüchtert von der italienischen Männerwelt. Als 23 Jahre junge, blonde und niedliche Frau wurde sie gerade auf dem Weg in die Altstadt zum Pizzaessen so viele Male angemacht, dass sie jetzt keine Lust mehr auf Italien hat. Alice und ich bauen sie wieder auf und geben ihr Tips, wie sie lästige Typen loswerden kann.
Um null Uhr kommt das erste Mal die Müllabfuhr, um eins dann noch eine weitere, diesmal ausschließlich für Glas. Ich liege in meinem Bett und denke darüber nach, was es heißt, wenn man nicht der Mensch ist, für den andere einen halten. Und ob es wichtigen Personen der Zeitgeschichte, wie zum Beispiel Jesus, auch manchmal so ging.
Ich bin dankbar und glücklich, dass ich heute ein anderes Napoli als gestern erlebt habe. Eins ohne übelgelaunte Touristenabzocke.
Morgen fahre ich weiter in Richtung Rom und passiere dabei die „brennenden Felder“ vor der Stadt. Darauf bin ich schon jetzt gespannt.