Um 4.30 Uhr wache ich auf. Das ist aber laut hier, buntes Vogelzwitschern, krächzende Raben, mindestens ein Hahn kräht und mehrere Käuzchen befinden sich anscheinend direkt über mir. Wie soll ich nur bei diesem Lärm weiterschlafen, frage ich mich, aber irgendwie geht es dann doch.
In Apulien ist Pfingstmontag kein Feiertag und so beginnen um 7.00 Uhr die Putzkräfte die Sanitäranlagen zu reinigen. Der frühe Vogel fängt den Wurm, vor allem weil es ja schon bald wieder heiß ist.
Nachdem ich alles zusammengepackt habe, suche ich nach einer Bar mit WLAN, um mein Datenvolumen zu schonen. Die Bars in Italien (und auch in Albanien und … ) sind von früh bis spät geöffnet, haben nicht nur Drinks, sondern auch Café und diverse Snacks im Angebot. Oft kann man sich, genauso wie in den Alimentari, für wenig Geld auch etwas frisch zubereiten lassen (belegtes Brötchen, Obstsalat, … ).
Im Dorfkern von San Piedro treffe ich einen Italiener wieder, mit dem ich gestern am Strand kurz geplaudert habe. Er weiß von einer Bar in der Nähe mit WLAN und, damit ich es auch sicher finde, fährt er mit seinem Auto voraus. Frederico und Adolfo werde ich nun als „amica mia“ vorgestellt. Das ist typisch italienisch, selbst ganz frische oder oberflächliche Bekanntschaften werden stets als „amici“ (Freunde) bezeichnet. Das Grüßen der amici mittels Hupens, der Small-Talk in Bars und auf der Straße (beim giro, d.i. der abendliche Rundgang), das Anbieten von Hilfeleistungen sowie sich gegenseitig Komplimente machen: das alles ist Alltagskultur und vielleicht auch der Grund, warum Italiener*innen den Eindruck haben, dass Deutsche „freddi“ (kalt) seien.
Aber, gerade im Süden, werden Deutsche in der Regel auch sehr geschätzt. Viele schwärmen vor allem von der Präzision, die sie im Norden vermuten. Hier hingegen wird vieles schnell und grob erledigt, mit geringen Geldbeträgen zum Beispiel wird locker umgegangen. Und so verwundert es nicht, dass die Ein- und Zwei-Cent-Münzen abgeschafft wurden und alles immer einen runden Betrag kostet.
Viele Kilometer fahre ich an Dünen und Sandstrand entlang, der heute nur wenig besucht ist. Irgendwann halte ich es nicht mehr aus und schiebe das Fahrrad durch den heißen Sand Richtung Meer. Baden, schwimmen, sonnen, ich könnte das jetzt ewig machen.
Aber dann komm ich nie vorwärts und vielleicht erst an Weihnachten in Leipzig an.
Ich beschließe, die jetzt abnehmende Hitze zu nutzen und bis hinter Tarent auf einen Campingplatz zu fahren.
Auf dem Weg bekomme ich für einige Kilometer eine Begleitung. Ein Rennradfahrer, mindestens zwanzig Jahre älter als ich, erklärt mir nach wenigen Minuten, nun ja, dass ich seine große Liebe sei. Er hätte ja schon viele Frauen getroffen, aber ich sei ja schon etwas ganz besonderes. Heute Nacht würde er von mir träumen und auch in der nächsten Nacht und überhaupt für immer. Er erläutert mir seine Vorzüge, dass er viel Sport mache und sich gesund ernähre und weist darauf hin, dass wir beide die selbe Nase hätten. Er fragt, wie viele Geschwister ich habe und wie groß denn mein Zelt ist. Als ich sage, dass mein Fahrrad und ich reinpassen, antwortet er, nun, dann müsse er jetzt wohl ein Zelt kaufen. Anfangs finde ich das ganz amüsant und auch erstaunlich, wie kreativ und selbstbewusst er das alles so vorträgt. Aber irgendwann habe ich nur noch genug von dieser Theatervorstellung und ich sage, dass ich einen Freund (un ragazzo bravissimo) habe und wir uns jetzt verabschieden.
Solche Begegnungen und Aktionen kenne ich noch sehr gut aus meiner Italienzeit. Sie sind etwas, für das sich junge, alternative und weltgewandte Italiener*innen schämen und was sie am liebsten sofort abgeschafft wissen möchten.
Kurz vor Tarent nimmt der Verkehr stark zu. Es gibt zwar keine Radwege, aber ich komme trotzdem gut voran. Der Verkehr folgt vor allem einer Regel: die Verkehrsregeln nicht ganz so ernst zu nehmen. Hier ein klarer Vorteil für mich, meistens wird mir bedeutet, dass ich durchfahren kann und soll.
Auch wenn Tarent ein ganz hübsches Castell auf einer mit Brücken verbundenen Insel hat, ist es vor allem eine Industriestadt.
Ich würde jetzt gern in einem der zahlreichen Fischrestaurants anhalten und einen großen Teller Pasta mit Meeresfrüchten essen, aber ist schon spät.
Als ich die Schnellstraße im nordwestlichen Teil der Stadt erreiche, geht bereits die Sonne unter.
Ich ziehe, so wie es ab Beginn der Dämmerung Vorschrift ist, die Warnweste über. Die letzten zehn Kilometer fahre ich mit einem 23 km/h Schnitt zügig durch, weil mir die Gegend nicht wirklich geheuer ist. Erschöpft erreiche ich den Campingplatz, wo man sich sehr über meine Ankunft freut. Ich bekomme alles ausgiebig gezeigt, einen beleuchteten Platz unter Kiefern und frisches Trinkwasser. Kostet 8 Euro die Nacht, inklusive warmer Dusche, Tisch und Stuhl. Zelt aufbauen, essen, duschen. Halb zwölf falle ich in einen komaartigen Schlaf.