Bevor ich heute losfahre, kontrolliere ich nochmal mein Fahrrad. Sind alle Schrauben fest? Sind irgendwelche Schäden zu sehen? Sind die Taschen richtig eingehangen? Wenn man weiß, dass in technischer Hinsicht alles gut ist, kann man bergab auch schnell fahren.
Zunächst heißt es jedoch die Bergpässe zu erkimmen, 640 Höhenmeter sind es insgesamt.
Von den vergangenen Tagen habe ich Muskelkater. Aber, zum Glück, weder einen Wolf gefahren (Fachjargon für: sich am Sattel wund reiben) noch Läuferknieprobleme. Es ist schon merkwürdig: mit Anfang 20 war ich in einen Mann verliebt, der manchmal mit dem Fahrrad von Chemnitz nach Leipzig fuhr. Ich bewunderte ihn sehr dafür. Und nun fahre ich in mir fremden Ländern mehrere Tage am Stück über 80 Kilometer. Selbst vor Kurzem dachte ich, dass ich maximal 50 Kilometer am Tag schaffe. Oft kann man mehr, als man denkt.
Vor „meinem“ Haus schieben Jugendliche ihre Mountainbikes den Berg hoch. Ich grüße sie, aber sie beachten mich nicht. Sie haben heute schulfrei, denn in Bulgarien ist Karfreitag (orthodoxes Kirchenjahr) und somit ein Feiertag.
Ich mag das Dorf hier oben. Die Häuser sind zwar überwiegend unsaniert, aber es gibt saubere Luft (was ich nach dem vielen Staub der letzten Tage zu schätzen weiß), es ist friedlich und ruhig.
Um wieder auf die Straße Nr. 8 zu gelangen, überquere ich eine Brücke, deren Begrenzung keine 30 cm hoch ist. Das habe ich jetzt schon häufiger gesehen und jedes Mal habe ich Angst, dass ich mit dem Fahrrad umkippen und tief hinab in den Fluss fallen könnte.
Auf der Straße herrscht mäßiger Verkehr. In der nächsten Stadt, Kostenez, brüten besonders viele Störche, auf Strommasten, Schornsteinen und Dächern, überall.
Ich halte an einer Tankstelle. Tankstellen haben den Vorteil, dass dort immer Menschen sitzen, die gerade eine Pause machen. Ich kann mein Fahrrad samt Taschen an eine Wand lehnen, Rahmen und das Hinterrad zusammenschließen und in Ruhe Wasser kaufen oder aufs Klo gehen. Das kollektive Rumsitzen an der Tankstelle erzeugt soziale Kontrolle.
Hier treffe ich Ramon wieder, mit dem ich gestern schon gesprochen habe, als ich kurz vor seiner Produktionsstelle hielt. Er kommt ursprünglich aus Hamburg, lebt nun schon lange in Bulgarien und hat hier die Niederlassungen eines Hardwareunternehmens aufgebaut.
Er erzählt mir, dass auf den bulgarischen Autobahnen oft auch mal Radfahrende unterwegs sind und die Polizei keine Strafen dafür verhängt. Als wir uns verabschieden, gibt er mir seine Visitenkarte. Falls ich irgendwelche Probleme in Sofia haben sollte, kann ich ihn anrufen.
Danach geht es hoch, hoch, hoch. Die Sonne brennt, ich schwitze und trete. Um meine Arme nicht zu verbrennen (trotz Sonnencreme mit LSF 30), ziehe ich ein Merinolangarm-Shirt von meinem Bruder an. Es ist mir zu groß, schlackert im Fahrtwind und kühlt wunderbar.
In einem kurzen Zwischental durchquere ich eine Stadt, die auf dem ersten Blick wirklich nicht schön ist. Müllkippe direkt am Ortseingang und triste Wohnblocks mit Spielgeräten aus Zeiten des Kommunismus.
Gestern habe ich das erste Mal mein Hundefutter eingesetzt und es hat funktioniert. Auch heute werfe ich es nach Wachhunden, die knurrend und bellend auf mich zurennen. Aber diese aggressiven Hunde interessieren sich nicht für das Futter. Zum Glück ist hinter mir ein Auto, was laut und lange hupt, was sie zumindest von der Straße vertreibt.
Ich verlasse die Hauptstraße und nehme eine Straße, die parallel zur Autobahn verläuft und wahrscheinlich aufgrund ihres schlechten Zustands für den Verkehr offiziell gesperrt ist. Es ist herrlich: blühende Bäume, Eidechsen, Schmetterlinge und viele Minuten lang kein Auto.
Auf dieser Straße erklimme ich den höchsten Punkt meiner heutigen Reise: 850 m. Ich trinke und esse immer wieder, Wasser, Schokolade, Datteln. Auch einfach nur trockenes Brot, weil es auch so gut schmeckt (fluffiges Weizenvollkorn) und ich Zeit sparen möchte.
Um 19 Uhr möchte ich bei der Critical Mass in Sofia sein. Ich fahre mit bis zu 45 km/h die Berge wieder hinab und entscheide unten, wirklich für ein kurzes Stück die Autobahn zu nutzen und nicht einen langen Umweg über einen weiteren Berg zu wählen. Als ich gerade die Auffahrt hoch möchte, sehe ich auch schon zwei andere Radfahrende, die gerade von der Autobahn abfahren. Bedenken und Angst habe ich trotzdem.
Doch es ist alles halb so wild, die Standspur ist breit und dank Tempolimit (130 km/h) fahren die Autos nicht irrsinnig schnell. Um 19.15 Uhr erreiche ich den in Facebook angekündigten Ort, aber keine*r ist da. Auch CriticalMaps, eine App, mit der man die Gruppe finden kann, scheint nicht zu funktionieren. Ich schreibe Ivailo, der die Critical Mass hier organisiert und er holt mich ab. Er bringt mich zum Kulturpalast, wo die anderen warten und einer noch einen Platten repariert. Mit 13 Personen und einem Kind drehen wir eine Runde in der Stadt, Ivailo immer voraus. Das Fahren im Verband, so wie in Deutschland in der StVO formuliert, gibt es hier in dieser Form nicht, auch nicht die Regel, dass jede*r frei nach Lust und Laune vorn fährt und spontan die Richtung angibt.
Wir verabschieden uns ganz in der Nähe meiner heutigen Unterkunft und ich treffe mich mit meinem Host für Sofia von warmshowers. Er hält nicht viel von sozialen Netzwerken, Messengerdiensten und Websites, das Posten von Bildern dieses schönen, besonderen Ortes bittet er zu unterlassen. Und so nur ganz kurz: ich bin in einer Einzimmerwohnung in der Innenstadt, nur für mich, kann eine Waschmaschine nutzen und darf maximal bis zum 3. Mai hier bleiben. Ich bin glücklich, an einem sicheren, ruhigen und sauberen Ort angelangt zu sein, an dem ich mich ausruhen und die nächsten Etappen planen kann.
Hi, wirklich nett Dein Blog – like 👍👍
Unser Foto ist ja ein echtes “cheese” Foto 😁😁 geworden.
Alles Gute auf Deiner Weiterfahrt.
Ramon
Hej, danke, ja, hat der Kollege gut gemacht, das Foto :). Viele Grüße