Im Hotel hängen verblichene Fotos von Umzügen in Gubbio. Jedes Jahr am 15. Mai ist Corsa dei Ceri, der Tag an dem die Heiligenfiguren herumgetragen werden. In Gubbio sind dies drei 400 Kilogramm schwere Statuen, die von verschieden gekleideten Teams möglichst schnell den Berg hochtransportiert werden. Das Gewinnerteam steht allerdings schon vorher fest, die Statue des Sant’Ubaldo muss als erstes ankommen. Ist schließlich der Schutzheilige der Stadt. Deshalb wird das Rennen auch „Lauf der Verrückten“ genannt.
Unter dem Ortseingangsschild von Gubbio steht: la piú bellá cittá medievale (die schönste mittelalterliche Stadt). Die sind aber selbstbewusst hier. Ob es wirklich besonders schön ist? Also statt außen rum nochmal rein in die Altstadt.
Die Häuser unverputzt, die hölzernen Türen, Fenstersimse und Türstöcke aufwändig gearbeitet.
In einem kleinen Laden hängen die gleichen Bilder von Gubbio wie im Hotel, es gibt Trüffelkäse, Mortadella, riesige Schinken, in Olivenöl eingelegtes Gemüse und Crescia, die umbrische Form des Pizzabrotes.
Gleich gegenüber ein Imbiss mit Torta al testo und da schon wieder fast Mittag ist, schlage ich jetzt mit der vegetarischen Variante zu.
Die Verkäuferin scheint sich richtig zu freuen, dass ich vorbeikomme und ist äußerst freundlich.
Bei meinem Kurzbesuch erscheint mir diese Stadt tatsächlich als sehr schön, ein gutes, fast optimales Urlaubsziel.
Es gibt mit Museum, Burg und Altstadt etwas zu sehen, kulinarische Spezialitäten en masse und es ist nicht so überlaufen, wie die Städte in der Toskana. Umbrien, das grüne Herz Italiens, das ich heute wieder verlasse, hat mir überraschend gut gefallen.
Auf dem Weg nach oben, auf einer Bundesstraße, werde ich von LKWs mit so wenig Abstand überholt, dass ich die Warnweste überziehe und einen zusätzlichen Beutel mit einer Wasserflasche an der linken Seite befestige, als zusätzlicher Abstandshalter. Aber es bringt nichts, in einem engen, dunklen Tunnel ziehen drei LKWs mit Anhängern nacheinander so eng an mir vorbei, dass ich anfange vor Angst zu zittern. Ich bleibe kurz so weit wie möglich am Rand stehen, fuchtel mit den Armen und rufe porca miseria (einer der vielen, hässlichen italienischen Ausdrücke), was natürlich auch nicht hilft. Für die Autofahrenden, die wenigstens nicht ganz so groß und breit sind, sieht das bestimmt ulkig aus. Nach einem Stück Talfahrt ist es geschafft, es gibt wieder eine kleinere Seitenstraße.
Viele Kilometer bergab, an einem kleinen, türkis schimmernden Fluss entlang.
Spitze Berge mit grauen Felswänden, kleine Dörfer mit engen Gassen, in einer Bar läuft Radrennen. Ist ja schon wieder Tour de France.
In Acqualagna entscheide ich statt des schicken Campingplatzes weiter nördlich einen einfachen gleich in der Nähe anzufahren. Einen mit großen, alten Eichen, ohne Swimmingpool, aber mit dem kleinen Fluss direkt daneben.
Ich versuche mich nicht darüber zu ärgern, dass ich so langsam vorwärts komme (heute nur 46 Kilometer). Weil, was wären die Alternativen? Ich könnte Zeit einsparen bei: im Internet Dinge nachlesen, Blogbeiträge kürzer fassen, weniger Fotos machen, Fastfood und Schokoriegel statt Brot, Obst und Gemüse, weniger mit Freund*innen schreiben und telefonieren, Dehn- und Kraftübungen weglassen. Zu all dem bin ich nicht bereit. Es ist schon verrückt: da kann ich mir die Zeit komplett selbst einteilen, habe lange Urlaub und frei und fühle mich trotzdem oft gehetzt und gestresst. Das ist glaube ich eine gute Erkenntnis für später: es ist (fast immer) an einem selbst, wie sehr man sich und andere unter Druck setzt. Denn man kann es auch annehmen, das Leben im Hier und Jetzt. Es gibt meistens noch mehr zu entdecken, zu erleben, zu tun. Noch bessere Texte schreiben, noch umweltfreundlicher leben, noch mehr soziale Kontakte aufrecht erhalten. Am deutlichsten zeigt sich das oft im Wort „müssen“ (welches ich versuche zu meiden). Man kann auch gleich sagen, dass, was ich gemacht und gesehen habe, das ist ok und ausreichend. Und darauf zu schauen und nicht auf das, was noch fehlen könnte.
Die wichtigste Stunde ist immer die Gegenwart, der bedeutendste Mensch immer der, der gerade bei dir ist, und das notwendigste Werk ist immer die Liebe. Meister Eckhart (um 1240-1328) Danke für die täglichen Zeilen.
Wahre, weise Worte …