Wenn ich am Morgen das Chaos in meinem Zimmer sehe, dann denke ich jedes Mal: das schaffst du nicht, zu viele Sachen. Viel zu viel zu ordnen und in den fünf Taschen unterzubringen. Aber erstaunlicherweise passt dann doch immer wieder alles rein und zusammen.
Heute lasse ich zunächst das fertige Gepäck in der Unterkunft zurück, denn Durrës ist nur 40 Kilometer entfernt. Maximal drei Stunden Fahrt.
Ich fahre mit dem Fahrrad ins Zentrum zur Nationalgalerie.
Hier werden vor allem Werke ausgestellt, die dem sozialistischen Realismus zugerechnet werden.
Mich erstaunt, dass es auch einige Werke gibt, die eher nach Expressionismus aussehen, als nach glorreichem Sieg des Proletariats.
Eine Ebene ist der zeitgenössischen Kunst gewidmet. Leider gibt es keinerlei Schilder neben den Werken und so ist der Handzettel, auf dem die Künstler und das Entstehungsjahr verzeichnet sind auch relativ sinnlos.
Da ich schnell durchs Museum durch bin, gehe ich noch zu einem Bunker, in dem die Geschichte der albanischen (Grenz)polizei und des lückenlosen Überwachungssystems während des Kommunismus gezeigt wird.
In den zahlreichen kleinen Bunkerräumen erfahre ich wie der Sigurimi (albanische Geheimdienst) arbeite. Ganz ähnlich zur Stasi, vielleicht aber gegenüber der eigenen Bevölkerung noch umfassender und brutaler.
Zwischen 1944 und 1990 gab es durchaus auch ausländische Besucher in Albanien. Diese mussten allerdings gewillt sein sich anzupassen. So gab es im Flughafen extra Barbiers, die lange Bärte und Haare stutzten (waren bei Männern verboten) und Frauen durften auf keinen Fall zu kurze, enge Kleider im Gepäck haben.
Die ganze Ausstellung ist lebendig und anschaulich gemacht, aber irgendwie auch reißerisch. Das bunte Logo der sogenannten „Bunk’Art 2“, die begleitende App, das freie WLAN, die Licht- und Toninstallationen: irgendwie empfinde ich das als pietätlos. Mit den Opfern der Geschichte, so scheint es, wird heute Profit gemacht. Aber, könnte man einwenden, immerhin gibt es überhaupt eine Darstellung und Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte.
Ich gehe zurück zum Fahrrad, an dem mein leicht zu klauender Rückspiegel glücklicherweise noch dran ist. (Wäre am Wittenberger Bahnhof vielleicht nicht der Fall gewesen.)
Auf dem Rückweg passiere ich noch einen großen Moschee-Neubau in der Innenstadt. Gestern habe ich bei der Stadtführung erfahren, dass die Einwohner*innen von Tirana diesen befürworten, da die alte Moschee für die Anzahl der Gläubigen viel zu klein ist und sie deshalb draußen auf den Plätzen der Stadt beten. Die Albaner*innen sind zudem froh über ihre zurückgewonnene religiöse Freiheit und Toleranz gegenüber verschiedenen Glaubensrichtungen. Einzig dass die Moschee zur Hälfte vom türkischen Staat finanziert wird und Erdogan zu diesem Anlass eine Rede über das „glorreiche osmanische Reich“ hielt, sorgte für Ärger.
In der Mensa esse ich noch einen großen Teller Gemüse-Pasta und einen Salat für 150 LEK (1,23 Euro). Selbst für albanische Verhältnisse ist das wirklich preisgünstiges Non-Fastfood, ich bin begeistert.
Halb vier fahre ich los und schlängel mich durch den Berufsverkehr von Tirana. Mir macht das ja auch ein bisschen Spaß, zwischen all den Autos, die sich gegenseitig ausbremsen.
Auf der Landstraße nach Durrës reißt die Kette der Einfamilienhäuser mit kleinem Garten nicht ab, rechts und links gibt es Hügel, die wie Zuckerhüte aussehen. Die wenigen Autos hier sind langsam unterwegs, die Straße ist geprägt von vielen, teilweise sehr tiefen Schlaglöchern.
Und auch ich muss mich konzentrieren, einmal fahre ich fast einen Esel an, der unvermittelt vor mir auf die Straße springt. Ich habe Gegenwind, was mich aber nicht sehr stört. Einzig der Staub nervt, der erinnert mich an die letzte Fusion.
In einem Milch- und Käseladen hole ich mir für das Abendbrot noch Käse und eine Creme, die wie eine Mischung aus Joghurt, Quark und Sauercreme schmeckt. Die Milchsäurebakterien kribbeln auf der Zunge, ist sicher richtig gesund und nahrhaft das Ganze.
Auf dem letzten Kilometer bis zum Hostel fängt es mit Gewittern an und ich stelle mich noch kurz unter, damit ich nicht komplett einweiche.
Leider ist in den nächsten 60-70 Kilometern in keiner der Karten ein Campingplatz oder ein Hostel in Strandnähe eingezeichnet. Es scheint nur schicke (und sicher relativ teure) Hotels und Gästezimmer zu geben. Ich schreibe einem englischen Backpacker, Ben, den ich schon in Ohrid kennengelernt habe, ob er nicht vielleicht bald auch hier ist. Zu zweit würde ich mir trauen irgendwo wild zu campen (ist offiziell erlaubt in Albanien). Aber er ist immer noch im Süden Albaniens und möchte noch diverse Ruinen besuchen. Und so weiß ich nicht, was ich morgen am besten machen soll.
Hallo Juliana, Reisen sind auch Zeitreisen in die Geschichte. Gut das Du Dir Austellungen angesehen hast. Das Unmenschliche der Diktaturen darf nicht in Vergessenheit geraten oder beschönigt werden. Die DDR Sportlerin Ines Geipel prägte unlängst den Begriff: Verpittiplatschisierung. Viele Grüße Dein Vati
Lieber Vati, ja, das stimmt. Viele Grüße Jule